FG Münster: Diskontierung unverzinslicher Verbindlichkeiten in der Bilanz

In der Handelsbilanz ausgewiesene Rückstellungen können in der Steuerbilanz, die auf Basis der Handelsbilanz erstellt wird, den steuerbaren Gewinn mindern. Bei Rücklagen ist dies nur in speziellen Fällen wie bei einer Reinvestitionsrücklage nach § 6b Abs. 3, 10 EStG denkbar. Die Abgrenzung und Bewertung der Rückstellungen sind also entscheidend für die Bestimmung des steuerbaren Gewinns. Das FG Münster hat in einem Urteil vom 18.01.2022 (Az. 2 K 700/18 G, F) über einen Fall entschieden, in welchem die Parteien über eine bilanzielle Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten im Sinne von § 6 Abs. 1 Nr. 3 lit. e) EStG streiten.

Sachverhalt

Die Klägerin war eine Handelsgesellschaft, die gegen einen Feststellungsbescheid über die einheitliche Feststellung der Besteuerungsgrundlage sowie gegen einen Bescheid über die Festsetzung des Gewerbesteuermessbetrages ihres zuständigen Finanzamtes vorging. Der Feststellungsbescheid war 2015 für das Wirtschaftsjahr 2013 unter Vorbehalt der Nachprüfung gemäß § 164 Abs. 1 AO ergangen. Die Klägerin hatte ihren steuerbaren Gewinn im Jahr 2013 mittels Betriebsvermögensvergleich nach §§ 4, 5 EStG ermittelt, ohne darüber eine formgerechte Steuererklärung abzugeben. Gegen einen im Schätzungsverfahren nach § 162 AO erstellten Steuerbescheid hatte sie Beschwerde eingelegt. Mangels Steuererklärung führte das Finanzamt für die Jahre 2011 bis 2013 eine Betriebsprüfung nach § 193 AO durch, wobei es nicht ausgewiesene stille Reserven in Höhe von knapp 90.000 € feststellte. Diese wurden bei der Abänderung des Steuerbescheides nach § 164 Abs. 2 AO im Jahr 2016 gewinnerhöhend aufgelöst und somit Teil der festgestellten Besteuerungsgrundlage. Die Klägerin machte geltend, es handele sich bei den stillen Reserven um Rückstellungen für künftige Verbindlichkeiten, die zurecht nicht als steuerbarer Gewinn deklariert worden seien. Aus geschäftlicher E-Mail-Korrespondenz ging hervor, dass die Reserven ihrer Höhe nach Verbindlichkeiten entsprachen, die einer Schwestergesellschaft der Klägerin (J GmbH) aufgrund eines laufenden Prozesses sowie der Klägerin selbst aufgrund einer Stundungsabrede mit einem in Dänemark ansässigen Gläubiger zu einem ungewissen Zeitpunkt in der Zukunft gegenüberstanden. Die Passivierung der entsprechenden Beträge sei somit rechtmäßig erfolgt.

Problemstellung

Streitig ist im vorliegenden Fall, ob die Rückstellungen wegen der in Zukunft fälligen Verbindlichkeiten zurecht als Passivposten bilanziert wurden und, sofern dies der Fall ist, ob sie der Höhe nach richtig angesetzt wurden. Ein Kernproblem dürfte zunächst auch gewesen sein, dass die Klägerin ihren steuerbaren Gewinn per Betriebsvermögensvergleich nach §§ 4, 5 EStG ermittelt, zugleich aber bilanzielle Rückstellungen gewinnmindernd geltend gemacht hat. In diesem Fall wäre – zumindest der Rechtssicherheit wegen – eine formgerechte Bilanzierung nach §§ 266 ff. HGB erforderlich gewesen. Für die Handelsbilanz ergibt sich aus § 249 HGB die Pflicht zur Bildung von Rückstellungen für künftige Verbindlichkeiten (beispielsweise auch solche steuerlicher Art). Dabei geht aus § 274 HGB hervor, dass auch steuerliche Verbindlichkeiten, die später durch absehbare Wertänderungen bestimmter Bilanzpositionen entstehen werden, bereits bei der initialen Bilanzierung zu berücksichtigen sind. Für die Bewertung von Rückstellungen ergibt sich aus § 253 Abs. 1 HGB das Erfordernis der Abzinsung, sofern die Verbindlichkeit, für die die Rückstellung erfolgt, voraussichtlich erst in mehr als zwölf Monaten fällig wird. Dies gilt auch für unverzinsliche Verbindlichkeiten, um die Rückstellung gegen anderweitige (nicht zinsbedingte) Änderungen der Forderungshöhe abzusichern. Bei verzinslichen Verbindlichkeiten ist der vereinbarte Zinssatz zugrunde zu legen, bei unverzinslichen Verbindlichkeiten, wie im vorliegenden Fall jene Verbindlichkeiten der Klägerin, sind die gesetzlichen Bewertungsgrundsätze für die Bestimmung der Abzinsungsrate heranzuziehen. Die Klägerin hat die gesetzliche Abzinsung nicht zugrunde gelegt und somit ihre Rückstellungen nicht korrekt bewertet. Dies führte dazu, dass das Finanzamt die Passivierung der Bilanzposition als nicht rechtmäßig betrachtete und die stillen Reserven aufdeckte, was bedeutet, dass die Beträge nicht als Rückstellungen, sondern als steuerbarer Gewinn angesetzt wurden.


Exkurs: Abzinsung und Aufzinsung

Aufzinsung (Askontierung) bezeichnet in der Finanzmathematik die Berechnung des zukünftigen Wertes einer aktuellen Zahlung unter Zugrundelegung eines Zinssatzes. Es handelt sich dabei prinzipiell um den Grundfall der Zinseszinsrechnung: Der Zeitwert Z wird mit einem jährlichen Zinssatz S und der jeweils relevanten Laufzeit L verrechnet, um den Wert der Zahlung zum Ende der Laufzeit zu erhalten:  Endwert = Z * (1 + S/100)^L

Abzinsung oder Diskontierung ist eine Operation, mit der der Zeitwert einer zukünftigen Zahlung ermittelt wird. Eine Diskontierung wird im Steuerrecht zur Berechnung des Zeitwertes von Forderungen vorgenommen, die

    1. Mehr als ein Jahr in der Zukunft fällig werden und
    2. Grundsätzlich nicht verzinslich sind.

Standardfälle sind etwa die Tatbestände der §§ 6 Abs. 1, 6a Abs. 3 EStG, § 12 BewG oder § 253 HGB. Relevant ist an dieser Stelle insbesondere § 253 HGB, der Bewertungsgrundsätze für die kaufmännische Rechnungslegung beziehungsweise Bilanzierung formuliert. Da die Wertansätze in der Handelsbilanz nach § 5 EStG für die Steuerbilanz maßgeblich sind, sind die Diskontierungsregeln des Steuerrechtes zu beachten. Im Zusammenhang mit bilanziellen Rückstellungen ist ihre Anwendung nach § 253 Abs. 2 S. 1 HGB ausdrücklich vorgeschrieben. Für den Abzinsungsfaktor kann im Regelfall zwischen zwei Ansätzen gewählt werden:

    1. Die Abzinsung mit pauschalen 5,5 % nach § 6 Abs. 1 Nr. 3a lit. e) EStG
    2. Die Abzinsung nach der Tabelle 2 in den Anlagen zu §§ 12 bis 14 BewG

Der gewählte Ansatz für die Diskontierung ist für alle im selben Wirtschaftsjahr (in aller Regel also im gesamten Veranlagungszeitraum) zu diskontierenden Verbindlichkeiten anzuwenden. Somit weist die Bilanz schlüssige und vergleichbare Zeitwerte für zukünftige Zahlungen aus.


Das Finanzamt hatte etwa die Rückstellung in Höhe von ca. 64.000 € gegenüber dem dänischen Gläubiger der Klägerin in Höhe von 65.000 € gewinnerhöhend aufgelöst. Dies hing mit der vom Finanzamt angesetzten Abzinsungsrate zusammen, mit der der Betrag der Rückstellung zu verzinsen war. Da das Finanzamt die Rückstellung im Jahr 2013 nicht mehr als Passivposition betrachtete, löste es den abgezinsten Betrag auf und klassifizierte ihn als Teil des steuerbaren Gewinns, womit sich eine Besteuerungsgrundlage in Höhe von 121.000 € aufgrund von Einkünften aus Gewerbebetrieb ergab. Die Klägerin wendete ein, dass der Betrag weiterhin nach § 249 HGB zurückgestellt und somit kein steuerbarer Gewinn sei.

Entscheidung und Gründe

Das Finanzgericht wies die Klage ab und erklärte die Feststellungsbescheide des Finanzamtes somit für rechtmäßig. Unter den von der Klägerin geschilderten Voraussetzungen hätte die materielle Rechtslage zwar grundsätzlich für sie gesprochen und ihre Ansicht gestützt. Streitentscheidend war allerdings nicht die materielle Rechtslage, sondern die prozessuale Beweislast: Das Gericht sah die Nachweispflicht der Klägerin über die Entstehung der Verbindlichkeiten sowie deren zukünftige Fälligkeit nicht als erfüllt an. Insbesondere ließ es die geschäftliche Korrespondenz, die die Stundungsabrede unter Nennung der Forderungen enthielt, nicht als Beweismittel gelten. Die Beweislast für das Bestehen von Verbindlichkeiten i.S.v. § 249 HGB liegt allerdings bei der bilanzierungspflichtigen Person. Somit betrachtete das Gericht die gewinnerhöhende Auflösung der stillen Reserven als rechtmäßig. Das FG verwies in seiner Begründung auf die ständige Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes, insbesondere auf BFH I R 53/15 vom 27.09.2017, in der sich der BFH mit dem Tatbestand der Passivierung einer Rückstellung als solchem auseinandersetzt. Das FG bekräftigte zudem die ständige finanzgerichtliche Rechtsprechung, wonach der pauschale Abzinsungssatz nach § 6 Abs. 1 Nr. 3 EStG entgegen dem Vorbringen der Klägerin verfassungskonform sei. Verwiesen wurde hierzu auf FG Münster 10 K 1707/20 E, G vom 22.07.2021 und auf FG Münster 13 V 505/21 vom 05.05.2021.

Fazit

Das Urteil unterstreicht den Stellenwert einer akkuraten Buchführung und Bilanzierung. Das maßgebliche Kriterium zur Bildung von Passivpositionen in der Bilanz nach § 249 HGB sind nach ständiger Rechtsprechung die kaufmännische Sorgfalt, nach welcher die Entstehung oder Fälligkeit einer Verbindlichkeit in Zukunft zu erwarten sein muss. Bei unverzinslichen Verbindlichkeiten hat eine Abzinsung nach den gesetzlichen Grundsätzen zu erfolgen. Entscheidend ist aber, dass der Grund für die gewinnmindernde Rückstellung, insbesondere also die Forderung oder der Sachverhalt, der in Zukunft mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zur Forderungsentstehung führt, zweifelsfrei nachgewiesen werden kann.